Entscheidungen
von Ace Ehrlich
Essay für das Artist Book „paintings/Bilder 2018–2022“,
erschienen anlässlich der Ausstellung „Inside Looking Out“ bei Moskowitz Bayse, Los Angeles 2022
Was war die letzte Entscheidung, die Sie getroffen haben? Ein Klick, ein Gedanke, ein Wort, eine Geste, ein Blick? Zu sehen, zu übergehen, zu beobachten, zu mögen, zu scrollen, zu löschen?
Entscheidungen, so wesentlich für unser Menschsein wie Daumen und Sprache, sind so vielzählig geworden, dass sie oft wie Nichts wirken: Energieverbrauch getarnt als konsequenzlose Nicht-Handlung. Wir streben nach Wohlgefühl durch vorgefertigte Entscheidungen und leicht verdauliches Entweder-Oder. Wollen Sie das Gemälde Ihres Freundes teilen oder es einfach nur liken? Werden Sie die empfohlene Sendung oder etwas anderes sehen? Haben Sie Ihren Arzt gefragt, ob Lexapro das Richtige für Sie ist? Das Leben fängt an, sich wie ein sich ständig erweiterndes Feld von Entscheidungen anzufühlen, die zu treffen oder zu ignorieren sind, auf der Basis von Informationen, die sowohl vollständiger als auch zugänglicher sind – und ausführlicher vermittelt – als je zuvor.
Schon ein kurzer Blick auf Franziska Goes‘ neue Gemälde bestätigt ihren Ursprung in unserer Gegenwart – wenn sie nicht sogar von ihr handeln –, die von Entscheidungen und Informationsüberfluss geprägt ist. Die Künstlerin, vielleicht aus Sympathie für den Betrachter, wird zum Algorithmus und zur Schiedsrichterin: Möglichkeiten, Kombinationen und Ergebnisse, begrenzt durch vorab getroffene Entscheidungen, bilden die kollidierenden Bedingungen, die für Abstraktion heute essenziell sind. Goes verarbeitet malerische Ausdrucksformen als neue, in sich gefasste Fenster zu diskreten formalen Rangeleien; die Bildsprachen der Computergrafik und der Abstraktion des 20. Jahrhunderts sind für den Betrachter des 21. Jahrhunderts so intuitiv lesbar wie Attribute der Heiligkeit und Anspielungen auf das Göttliche es für das gläubige Publikum vor 600 Jahren waren.
Pop-up-Fenster beschränken die angebliche Ausdehnung eines freien, versprengten Ausdrucks in Am Kap, 2020, während flaumige Horizontalen aus geairbrushter Farbe dahinter vibrieren. Das geschichtete Bild, das aus interagierenden Vorder- und Hintergründen besteht, ist eher als verpixelte, halluzinogene Flusslandschaft denn als Übung in objekthaft malerischer Abstraktion zu lesen. Goes‘ festgelegte und begrenzte Farben – ein Set von vier bis sieben je Bild – lassen den mühelosen Naturalismus von Firmenfarbpaletten anklingen, zusammengetragen aus allen vorstellbaren Lebensbereichen, um davon ununterscheidbar zu erscheinen. Elastisch Weicher Anfang, 2020, suggeriert beinahe, dass Muster von Bowlingcenterteppichen an die formalen Höhen der postkonstruktivistischen grafischen Innovationen eines El Lissitzky herankämen. Weitgehend akzeptiert und größtenteils entschärft ist Abstraktion, wie Rock’n’Roll und Psychedelika, businesswelttauglich geworden.
Goes‘ methodisches Verfolgen ihrer malerischen Ziele beinhaltet ihre Bezugnahme auf Primärquellen modernistischer Abstraktion (Gorky, Delaunay, volkstümliche Webarbeiten) und ihrer korrumpierten Nachkommen (Papierbecher im Solojazz-Design, Spin Art, Bildschirmschoner der frühen nuller Jahre) sowie die Identifikation von entscheidenden Momenten des Zusammenflusses. Als ob sie die vermeintlich inhärente Eigenschaft von Farbe und Form, sinnhafte Emotion zu vermitteln, testen würde, scrollt Goes durch zeichensetzende Techniken und kommt zu Zusammenstößen, Verbindungen und Proportionen, die in einem Gemälde funktionieren oder auch nicht. Ohne Bewertungen anzustellen – die Arbeit verlangt nicht danach –, identifiziert Goes eine kollabierte Bühne, auf der die Gesamtheit des historischen Bildmaterials, jetzt leicht zugänglich, willkürlich herausströmt über Algorithmen und Sucheinstellungen zu einem atemberaubend vielfältigen und zunehmend empfänglichen Publikum.
Natürlich sind große Teile dieses Publikums dahinter gekommen, dass der kalkulierte Einsatz visueller Information ein Präzisionswerkzeug zur Erzeugung verschriebener Emotionen und abgepackter Gefühle ist. Zum Beispiel verlaufen in Gefühl für Poesie/Purpurblau, 2021, die fünf Farben des Gemäldes längs aneinander wie Flüsse mit steigenden Pegeln und bieten in seiner kompositorischen Mitte einen griffigen Halt innerhalb der launenhaften Struktur des Bildes. Eine einzelne, gefasste Linie von gesprenkeltem Gelb auf dunklem Grün-Braun durchschneidet sie und überbrückt geradezu das flackernde Rauschen in der rechten Bildhälfte und die sanft gesprühten Zerklüftungen in der linken Bildhälfte. Dieser stark unterschiedliche Einsatz von Farbe, Struktur und Form fühlt sich sowohl laborgetestet als auch unmittelbar an und suggeriert, dass ihre anrührenden – sogar manipulativen – Eigenschaften subjektiv, veränderbar und konditioniert sind.
In der Tat muss ein gelungenes abstraktes Bild die Faktoren berücksichtigen, auf denen die Sehgewohnheiten seines Publikums basieren. Das hat uns in der Vergangenheit Kunstwerke beschert, die ästhetisch und spirituell an den Themen Gott, Maschine, Kosmos, Eroberung und Revolution ausgerichtet sind. Geburt, Tod und Sex kommen zuverlässig vor. Die Abstraktion von heute fordert eine Anerkenntnis des Computers und der unzähligen Optionen, die er ständig bietet. Unsere Bildschirme füttern uns mit Bildern, Worten, Datenpunkten, Werbung, Beschwörungen und dosierten Serotonin-Schüben. Wir kennen die Tricks, und dennoch laden wir sie in unser Zuhause und unser Leben ein. Das ist eine Entscheidung – obwohl es sich zunehmend wie eine verpflichtende Teilnahme anfühlt. Vielleicht ist das eine gute Sache. Weder treffen Goes‘ Gemälde ethische Entscheidungen für die Betrachtenden, noch verlangen sie irgendeine spezielle Betrachtungsweise. Und wie könnten sie das?
In großzügigerer Weise und stärker an den ursprünglichen Zielen der Abstraktion ausgerichtet bieten ihre Bilder Möglichkeiten an, Gedanken und Ideen zu organisieren, die sowohl momentspezifisch als auch breiter einsatzfähig sind. Der Computer, so sieht es aus, wird bleiben. Seine (ironischerweise) unkalkulierbaren Wirkungen auf unseren kollektiven und individuellen Geist fallen schwer ins Gewicht, während die Menschheit damit beginnt, den Klimawandel, die Überbevölkerung und endemische sozioethische Krisen zu bewältigen – oder zu ignorieren. Goes bietet eine Vision von Malerei nicht als ein Weg hinein oder hinaus, sondern als ein System zum Identifizieren und zum Entpacken des endgültig übersättigten Moments, den wir uns geschaffen haben. Jubelnd, synaptisch, rastlos, gesetzt und überlegt dokumentieren Goes‘ Bilder ein Zeitalter von enormer Möglichkeit, vorangetrieben und geformt durch die zunehmende Masse von Trillionen winziger, am Bildschirm und auf der Leinwand getroffener Entscheidungen.
Übersetzung aus dem Englischen: Kristina von Bülow